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WAS DIE ZUGÄNGE DES DRITTLIGISTEN AUF DEN BOLZPLÄTZEN BERLINS GELERNT HABEN
Tunay Deniz und Timur Gayret bringen den Straßenfußball zum HFC
Timur Gayret und Tunay Deniz bringen den Berliner Straßenfußball zum Drittligisten. Was die Zugänge auf den Bolzplätzen der Hauptstadt gelernt haben.
Von Fabian Wölfling
10.07.2022, 12:33
Halle/MZ - Der Spieltrieb muss gar nicht erst rausgekitzelt werden. Ein Fußballkäfig, ein Ball und schon fangen Tunay Deniz und Timur Gayret an, für die Kamera zu tricksen. Beim Zocken auf knallhartem Untergrund sind die beiden Techniker des Halleschen FC einfach in ihrem Element. Die gestellte Szenerie weicht schnell dem ehrlichen Spaß am Spiel.
Die MZ hat die neuen Profis des Fußballdrittligisten zum Gespräch auf einen Bolzplatz am Franckeplatz unweit der Hochstraße in Halle geladen. Es soll eine Reise werden zu ihren Wurzeln. Timur Gayret und Tunay Deniz sind echte Straßenfußballer. Geboren und aufgewachsen sind sie in der Millionenmetropole Berlin, als Enkel türkischer Einwanderer. „Groß geworden sind wir auf Bolzplätzen“, sagt Deniz.
Auf eingezäunten Betonfeldern, die ganz ähnlich sind wie der in Halle, haben sie sich ihre spielerischen Fähigkeiten angeeignet. Von denen soll jetzt der HFC profitieren. Gayret, 23 Jahre, und Deniz, 28 Jahre, sind beim Projekt mutiger Offensivfußball als Schlüsselspieler eingeplant
Berliner Straßenfußballer wie Boateng, Dejagah und Ebert
Seit eine ganze Generation junger Fußballer, die Boateng-Brüder Kevin-Prince und Jérôme, Änis Ben Hatira, Chinedu Ede, Ashkan Dejagah und Patrick Ebert, von den Käfigen Berlins aus mit Hertha BSC die Bundesliga eroberte, genießt die Hauptstadt den Ruf als letzte deutsche Bastion des Straßenfußballs. „Gewachsen auf Beton“, so steht es auf einem Wandbild im Stadtteil Wedding mit dem Ebenbild der Boatengs
„Gewachsen auf Beton, so war es auch“, sagt Tunay Deniz. Der heutige Mittelfeldstratege ist in Kreuzberg aufgewachsen. Seine Tage bestanden aus Schule, „meine Mama hat darauf bestanden, das ich Abitur mache“, und Fußball. „Nach der Schule hast du bei den Nachbarn geklingelt und gefragt, ob sie mit rauskommen zum Bolzplatz. Dann sind wir los in den Supermarkt, haben uns für 55 Cent einen Liter Eistee gekauft, davon haben wir alle getrunken. Dann ging es auf den einen Bolzplatz in Kreuzberg, wo sich alle getroffen haben und dann wurde gespielt“, erzählt er.
„Von morgens bis abends, ohne etwas zu essen, außer vielleicht ein Wassereis“, sagt Gayret. Er ist in Charlottenburg aufgewachsen, hat an einem anderen Ort, auf einem anderen Platz die gleichen Erfahrungen gemacht wie Deniz. Jeden Tag haben sie auf den Betonplätzen gespielt, solange, bis der Eine mit dem Ball nach Hause musste, „oder es dunkel wurde“, sagt Gayret. „Dann ging es schnell ab nach Hause, sonst gab es Ärger.“ Auch seinen Eltern war es wichtig, dass er einen ordentlichen Schulabschluss macht.
Wir haben von morgens bis abends gespielt, ohne etwas zu essen, außer vielleicht ein Wassereis.
Timur Gayret
Die Leidenschaft und auch die Träume gehörten aber dem Fußball. Die goldene Hertha-Generation, die es einst von der Straße bis ganz nach oben gebracht hat, diente dabei als Inspiration. „Wir haben auf demselben Belag gespielt wie sie. Sie haben es in die Bundesliga geschafft, also dachten wir, dass wir das auch schaffen“, sagt Deniz. Für das höchste Level hat es zwar nicht ganz gereicht, im Profifußball sind die beiden Straßenkicker aber angekommen.
Straßenfußballer wie Deniz und Gayret sind in Deutschland selten geworden
Und das auf anderen Wegen, als es heute in Deutschland Standard ist. Nach den sportlich tristen Jahren um die Jahrtausendwende krempelte der Deutsche Fußball-Bund bekanntlich die Talentförderung komplett um, die frühzeitige Ausbildung in Nachwuchsleistungszentren sollte das Nationalteam zurück an die Weltspitze führen. Was mit dem WM-Titel 2014 gelang. Inzwischen hat sich aber die Schattenseite der normierten Ausbildung mit taktischen Fesseln schon in jungen Jahren offenbart. Kreative Freigeister, wie sie Straßenfußballer sind, sind in Deutschland rar geworden. „Es war ja nicht wirklich gewünscht, auf dem Platz etwas Wildes zu machen“, sagt Gayret.
Im Spiel des offensiven Mittelfeldspielers und dem seines HFC-Teamkollegen findet sich das Unberechenbare der Straßenfußballer. Zwar ist auch das Duo schon seit Kinderzeiten im Verein aktiv, spielte aber nicht in den Nachwuchsleistungszentren von Hertha BSC und Union Berlin, sondern bei Tasmania Berlin und Hertha Zehlendorf. Und: „Neben dem Training haben wir weiter auf dem Bolzplatz gezockt“, sagt der einstige Tasmane Deniz
Auf dem Bolzplatz spielt Alter keine Rolle.
Tunay Deniz
Die Regeln beim Straßenfußball sind so einfach wie knallhart: „Üblich ist Fünf gegen Fünf, gespielt wird bis drei Tore. Der Gewinner bleibt auf dem Platz, der Verlierer muss runter“, erklärt Deniz. Die Konsequenz: „Wenn viele Mannschaften da sind, hast du bei einer Niederlage ein großes Problem. Dann wartest du auch mal zwei Stunden, bis du wieder spielen darfst“, sagt Gayret. „Deswegen geht es hart zur Sache.“
Eine absolute Siegermentalität sei daher etwas, was der Straßenfußball lehre. Dazu kommt Widerstandsfähigkeit. „Auf dem Bolzplatz spielt Alter keine Rolle. Da spielst du als Zwölfjähriger gegen Achtzehnjährige. Die nehmen bei Zweikämpfen keine Rücksicht und einen Schiedsrichter gibt es nicht“, erzählt Deniz. „Liegenbleiben ist da nicht, wenn du dir Respekt verdienen willst.“
Der Altersunterschied schule zudem die technischen Fähigkeiten, für die Straßenfußballer berühmt sind. „Du bist am Anfang viel kleiner, dünner und musst dich daher mit Technik durchsetzen“, sagt Gayret. „Den Instinkt, in engen Räumen gute Lösungen zu finden, lernt man auf den Bolzplätzen.“ Das Dribbeln auf engem Raum zählt deshalb auch zu den Stärken des neuen HFC-Zehners.
HFC-Trainer Meyer überzeugte Deniz und Gayret vom Wechsel
Den Weg von den Straßen Berlins nach Halle in die 3. Liga haben die neuen Hoffnungsträger, die sich bei Auswärtssreisen ein Zimmer teilen, mit Verzögerung genommen. Hinter Deniz, der eine Frau und eine kleine Tochter hat, liegen mehrere Stationen in der Regionalliga, zuletzt die Kickers Offenbach. „Ich hätte auch schon vorher in die dritte Liga gehen können, das Gesamtpaket aus Stadt, Verein und Trainerteam hat aber nie gestimmt“, sagt er. „Das ist jetzt anders. André Meyer hat mich überzeugt. Es ist eine spannende Aufgabe und ich denke, ich bin im idealen Alter eine Mannschaft anzuführen.“
Auch Gayret, der von Regionalliga-Reserve der Hertha kam, lagen bereits in den Vorjahren Drittliga-Angebote vor. „Ich brauche als Spieler aber das Vertrauen eines Trainers. Das war bisher bei der Hertha der Fall und bei André Meyer habe ich jetzt wieder das Gefühl. Deswegen bin ich hier“, erklärt er den Schritt.
In Halle wollen die Berliner Straßenfußballer mit ihren technischen Qualitäten - „gewachsen auf Beton“ - begeistern. „Wir wollen attraktiven Fußball spielen, die Fans sollen gern ins Stadion kommen“, betont Timur Gayret.